Vierter Offener Brief – Corona-Shutdown

Freie Szene stärken

Sehr geehrte Frau Senatorin Pop,
sehr geehrter Herr Senator Kollatz,
sehr geehrter Herr Senator Lederer,
sehr geehrte Mitglieder des Abgeordnetenhauses,

viel ist in den letzten Wochen über die Kultur geredet worden, doch lange Zeit zu wenig mit ihren Akteur*innen. Die Folge ist, dass zahlreiche freie Kulturschaffende durch das Raster der wirtschaftlichen Soforthilfen fallen, da ihre Arbeitsbedingungen nicht denen anderer Selbstständiger bzw. Unternehmen gleichen. Wäre die Kunst ein wirtschaftliches Produkt wie jedes andere, das Grundgesetz müsste ihre Freiheit nicht schützen, die Länder wären nicht zu ihrer Förderung verpflichtet und Künstler*innen würden nicht so oft prekär leben.

Und so versuchen unzählige Petitionen, offene Briefe und Appelle künstlerischer Spartenverbände seit Wochen verzweifelt, Politik und Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass unabhängige Kulturorte und freie Kunstschaffende bereits nach wenigen Wochen im Lockdown und angesichts monatelanger Ausfälle existenziell gefährdet sind. Die traurige Wahrheit ist: Wer in der Krise schließen muss, macht womöglich nie wieder auf. Wer keine Förderung erhält und dem privaten Immobilienmarkt ausgeliefert ist, droht seinen Raum nach Ablauf des Kündigungsschutzes für immer zu verlieren. Dieser Hilferuf scheint endlich auch beim Bund angekommen zu sein und man hört von der Idee einer Arbeitsgruppe zwischen Bund und Ländern für ein Bundesprogramm zur Rettung der Kultur. Das ist begrüßenswert, wird für viele Betroffene aber zu spät kommen.

Einige Länder, darunter Berlin, haben schneller und besser reagiert als andere, aber gereicht haben die Landesmittel aus Sicht der Betroffenen leider nicht – es kam doch zum „Windhundrennen“ und zu viele sind leer ausgegangen. Gerade für Berlin hat die freie Kulturszene nicht nur einen immateriellen Wert, sondern ist ein wirtschaftlicher Standortfaktor. Was für München das Residenztheater und in Dresden die Semperoper ist, sind in Berlin die mannigfaltigen Projekträume, Musikclubs, Bühnen, Atelierhäuser und Treffpunkte der Literaturszene. Die Anziehungskraft von Berlin in der ganzen Welt liegt in diesem einzigartigen experimentellen Flair begründet. Eine Re-Animation der Infrastruktur dieser Freien Szene wird nach einem monatelangen Lockdown ohne kulturelle Aktivitäten und damit ohne Einnahmen kaum möglich und wird langfristig auch den Tourismus der Stadt negativ beeinflussen, der in Berlin nicht zufällig seit zwei Jahrzehnten parallel zur Ansiedlung von immer mehr freien Künstler*innen aus aller Welt boomt.

Wir wenden uns daher an Sie mit der dringlichen Bitte, auf Landesebene weitere Mittel zur Rettung der kulturellen Infrastruktur und der vielen freischaffenden Künstler*innen aller Sparten bereit-zustellen und einige drängende Fragen zu beantworten, bis es auf Bundesebene eine langfristige Lösung gibt – bei der wir Sie um besonderen Einsatz für das besondere Gut der Kultur bitten.

  1. Die IBB hat bekannt gegeben, dass unberechtigte Bezugsempfänger*innen bereits 17 Mio. Euro aus der Soforthilfe II an das Land zurücküberwiesen haben. Die straffreie Rückzahlung ist weiterhin offen. Wofür werden diese Mittel nun verwendet? Wir appellieren an Sie, diese Mittel nun wieder für die ursprüngliche Zielgruppe verfügbar zu machen, sodass all jene, die unberücksichtigt geblieben sind nochmals einen Antrag auf die Landeshilfen stellen können.
  1. Man kann Vergangenes nicht ungeschehen machen, doch ist es fatal, dass nicht vor Auflage der SoforthilfeII transparente Informationen zu den Bezugskriterien veröffentlicht wurden. Dass die IBB nun innerhalb von 14 Tagen allen Hilfsempfänger*innen diesbezüglich per E-Mail schreiben will, tröstet nur wenig: das Geld liegt aus Angst vor Veruntreuung seit Wochen ungenutzt auf den Konten und zur Begleichung laufender Kosten fehlen weiterhin liquide Mittel. Wer einmal mit Subventionsbetrug aktenkundig geworden ist, wird rechtlich nie wieder förderfähig – für freie Künstler*innen käme der Ausschluss aus dem Fördersystem aber einem Genickbruch gleich. Wie hätten Antragssteller*innen ohne ausreichende Informationen wissen können, ob sie empfangsberechtigt sind oder nicht? Wir bitten schnellstmöglich um rechtsverbindliche, transparente, öffentliche Informationen zur Verwendung der Mittel mit konkreten Beispielen, die die Arbeitsrealität freier Künstler*innen berücksichtigen, um in der Freien Szene informieren und die große Verunsicherung diesbezüglich abfedern zu können.
  1. Baden-Württemberg hat eine Sondervereinbarung mit dem Bund getroffen und verwendet die Bundesmittel mit abweichenden Auflagen, sodass die Deckung von Lebenshaltungskosten möglich ist – so die Aussage von Staatsministerin Monika Grütters im Kulturausschuss am 22.4. Die Öffnung der Bundesmittel zur Deckung von Lebenshaltungskosten von Selbstständigen ist eine grundlegende und einstimmige Forderungen aller Kulturakteur*innen bundesweit. Wenn es in Baden-Württemberg möglich war, warum dann nicht in Berlin? Wir appellieren an Sie, sich für eine Verwendung der Bundesmittel in Berlin analog zu BW einzusetzen.
  1. Während Bund und Länder die vereinfachten Bedingungen beim Bezug der Grundsicherung anpreisen, sieht die Realität so aus, dass viele der JobCenter-Mitarbeiter*innen von diesen Bedingungen nichts wissen oder wissen wollen. Uns erreichen wiederholt Hilferufe, dass Sachbearbeiter*innen dem üblichen Prozedere folgen, wodurch lange Wartezeiten oder Abweisungen die Folge sind. Wir bitten dringend um eine Intervention bei den JobCentern, damit der vereinfachte Zugang nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis möglich ist. Hier sind rechtsverbindliche Informationen für Künstler*innen und Kulturschaffende erforderlich: zum Fortbestand ihres freiberuflichen Status, zur Mitgliedschaft in der KSK, zur Anerkennung von Kosten ihrer Arbeit und zum Aufenthaltstatus über 6 Monate Zudem muss veröffentlicht werden, wie mit rückwirkenden Vermögensprüfungen und der Prüfung der Wohnungsgröße verfahren wird. Auch die mögliche Anrechnung von Geldern aus der SoforthilfeII aus Landesmitteln sollte eindeutig geklärt werden.
  1. Einige Landesverbände der Freien Szene haben ehrenamtlich bereits Umfragen zum Bezug von SoforthilfeII und zu ungedeckten Bedarfen durchgeführt und die Ergebnisse veröffentlicht. Im Interesse der Transparenz bei der Verwendung von Steuermitteln bitten wir nun um Einsicht in folgende Ihrer Auswertungen: Wieviele rechtssichere Anträge auf Soforthilfe II sind der Kultur- und Kreativwirtschaft zuzuordnen? Wieviele sind hiervon der Freien Szene zuzuordnen (Aufschlüsselung nach Sparten, wenn möglich)? Wie verhält sich dies bei der Beantragung von Kurzarbeitergeld? Wieviele Künstler*innen und Kulturschaffende haben in Berlin Grundsicherung beantragt? Liegen dem Land Informationen zu Insolvenzanträgen aus dem Bereich der Kulturwirtschaft vor? Wieviele öffentlich geförderte Projekte welcher Sparten haben sich an das Land gewandt, da ihre Existenz der Erhalt ihres Ortes nach Veröffentlichung der Neufassung der Eindämmungs-VO und VO Großveranstaltungen gefährdet ist? Eine monatlich aktualisierte Rückmeldung zu diesen Fragen wäre sinnvoll.
  1. Die Internationalität der Berliner Kunst- und Kulturszene, von der diese Stadt so profitiert, bildet sich nun auch in den Problemen dieser Krise ab. Welche Maßnahmen hat das Land ergriffen, um den Lebensunterhalt derjenigen Künstler*innen abzusichern, die weder Anspruch auf die SoforthilfeII haben, noch die Grundsicherung beantragen können?

Wir danken für Ihre Zeit und Mühe und stehen Ihnen jederzeit für Rückfragen zur Verfügung. Bleiben Sie gesund!

Mit freundlichen Grüßen,

Der Sprecher*innen-Kreis der Koalition der Freien Szene

coronavirus-image
Image: CDC/Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAMS
Button Charta Alte Münze
Skip to content