Angesichts der am 23. April in Kraft getretenen „Bundesnotbremse“ fordert die Koalition der Freien Szene eine klare Öffnungsperspektive für Kulturorte – mit einer Differenzierung zwischen Veranstaltungen im Innen- und Außenbereich – sowie weitere umfassende Hilfsmaßnahmen für freie Künstler*innen und Kulturproduzent*innen. Außerdem müssen strukturelle Verbesserungen in der Fördersystematik, den sozialen Sicherungssystemen sowie der Infrastruktursicherung JETZT umgesetzt werden, damit die Auswirkungen des Lockdowns nicht auch nach der Pandemie noch Jahre anhalten.
Seit über einem Jahr akzeptieren Künstler*innen ihr quasi Berufsverbot im Interesse des Bevölkerungsschutzes und tragen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung solidarisch mit. Nach dem ökonomisch und mental desaströsen Jahr 2020, aber auch angesichts zunehmenden Wissens über das Virus und der Erfahrungen mit Hygiene- und Testkonzepten hatten Politik und Expert*innen den Kulturproduzent*innen Hoffnung auf ein Open-Air-Jahr 2021 gemacht. Doch durch das neue Infektionsschutzgesetz wurde ihnen nun auch diese Aussicht genommen: Wieder muss die Kultur alle Türen dicht machen, drinnen wie draußen und auch sonst völlig unterschiedslos – wieder wird sie im Gesetz nur unter Freizeiteinrichtungen gefasst!
Die Wirtschaftshilfen des Bundes reichen nach wie vor nicht aus, um alle betroffenen Kulturproduzent*innen angemessen und fair für ihren unverschuldeten Verdienstausfall zu entschädigen. Die Maßnahmen sind nach wie vor nicht zugänglich für alle und sie kommen nach wie vor nur schleppend an. Eine Vielzahl an freien Künstler*innen dürfte mittlerweile in versteckter Armut leben und angesichts des anhaltenden Lockdowns ist keine Besserung in Sicht. Neben weiteren Soforthilfen und Förderrunden im Rahmen bestehender Kulturförderprogramme und/oder der NEUSTART-Instrumente bedarf es daher dringend auch folgender Hilfen:
- Stützung oder Begrenzung der Mieten für freie künstlerische Produktions- und Präsentationsorte
- Einrichtung eines Nothilfefonds für Lebenshaltungskosten von Freien Kunst- und Kulturakteur*innen sowie Einrichtung eines Notfalltopfes zur Abfederung von Einnahmeausfällen oder Zusatzausgaben durch höhere Gewalt (wie auch für fest subventionierte Kunst- und Kultureinrichtungen existent).
Kein Zurück zu vor der Krise – Reformen jetzt sofort
Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, dass Freie Künstler*innen aus allen Sparten oftmals gering bezahlte Tätigkeiten ausüben, die ihre prekäre Lebenssituation durch mangelnde soziale Sicherungssysteme und ein überdurchschnittlich hohes persönliches finanzielles Risiko noch verschärfen. Um die exakten Auswirkungen des ersten Lockdowns zu erfassen, hat die Koalition der Freien Szene eine Umfrage durchgeführt, deren Ergebnisse Anfang April präsentiert wurden.
Aus den Ergebnissen der Befragung lassen sich wichtige spartenübergreifende Entwicklungsziele zur Verbesserung der strukturellen Arbeitsbedingungen der Freien Szene ableiten, die JETZT angegangen werden müssen, wenn das Kultursterben in den Jahren nach der Krise abgewendet werden soll.
Schaffung von grundlegenden Absicherungen vor „Verdienstausfällen“:
- Verbindlicher Vertragspassus zur Zahlung von Ausfallhonoraren als gesetzliche Vorgabe
- Erleichterter Zugang zur Künstlersozialkasse
- Einführung eines Sicherungssystems an die KSK gekoppelt bzw. Kurzarbeitergeld in Anlehnung an die letzte Steuererklärung
- Konzeption von Versicherungen für Verdienstausfälle und/oder Förderung und Entwicklung von arbeitnehmerähnlichen Strukturen
Fördersystematik:
- Höhere Honorarsätze und Ausstellungshonorare als verpflichtende Mindesthonorare (Förderkriterium), um die Bildung von Rücklagen zu ermöglich und inflationsbedingte Kostensteigerungen abzufedern
- Schaffung von (mehrjährigen) Stipendien zur Finanzierung von Recherchezeiten und Projektentwicklungen (auch für Teams sowie inkl. der Tätigkeitsfelder Kuration und Produktion sowie Licht-, Sound-, Bühnen- und Kostümdesign). Hier wäre beispielsweise an die Einführung von Impulsförderungen zu denken.
- Strukturförderung für Gruppen, Orte und Produzent*innen/Kurator*innen sowie eine Verlagerung vom reinen Projektbegriff hin zu Phasenmodellen (um Generationenunterschiede abbilden zu können, bspw. das Anwachsen der Honorarsätze mit zunehmender Professionalität)
- Aufstockung der verfügbaren Fördermittel (die starke Überzeichnung aller Fördertöpfe zeigt deutlich ein strukturelles Missverhältnis auf). Definition der Steigerungsraten im Kulturhaushalt entsprechend der prozentualen Anzahl der freien Kunstschaffen- den im Verhältnis zu den Festangestellten
- Wiedereinführung von Auftragsarbeiten durch Land und Bund bzw. durch Aufträge und Kooperationen durch und mit den fest finanzierten Häusern für alle Tätigkeitsbereiche
- Verbindliche Quoten für Produktionen von Stadttheatern, Konzerthäusern und Opernhäusern, die mit der Freien Szene gemeinsam entwickelt werden müssen, sowie für Anteile zeitgenössischer Kunst- und Kultur in den Programmen (auch Auf- tragskompositionen usw.)
- Freie Künstler*innen in Tandems mit der Intendanz/Künstlerischen Leitung fest subventionierter Häuser einbinden
- Mehr Unterstützungssysteme durch Beratungen, Weiterbildungen, festangestelltes Personal, das von Freien zur Unterstützung eingebunden werden kann (z.B. für die Erstellung von Hygienekonzepten in Pandemiezeiten, aber auch für generelle Siche- rungssysteme – individuell oder für freie Produktionsstätten)
- Schulung von Mitarbeiter*innen in Verwaltung, Finanzämtern, Jobcenter usw. um ein Verständnis der Lebensrealität der Freien Kunst- und Kulturakteur*innen zu erreichen
Abschließend wollen wir nochmals eindringlich mahnen, dass Kürzungen im nächsten Kulturhaushalt der Länder und des Bundes dazu führen werden, dass die Notlage der Freien Künstler*innen sich unabsehbar verschlimmert. Da durch die Tarifsteigerungen der Mitarbeiter*innen fest subventionierter Kunstorte natürliche Zuwüchse des Haushalts notwendig sind – die wir ausdrücklich begrüßen – ist bei gleichbleibenden (oder gar sinkenden) verfügbaren Mitteln zu befürchten, dass die Haushaltstitel für Freie Künstler*innen in Zukunft rückläufig definiert werden.
Dies jedoch würde allen durch die Krise offenbarten Notwendigkeiten und die aus unserer Umfrage abgeleiteten Forderungen nach einer strukturellen Verbesserung und Absicherung der Freien Szene entgegenstehen.
Der Sprecher*innen–Kreis der Koalition der Freien Szene