Dritter Offener Brief – Corona-Shutdown

Freie Szene stärkenSehr geehrte Frau Senatorin Pop,
sehr geehrter Herr Senator Kollatz,
sehr geehrter Herr Senator Lederer,

erleichtert und dankbar haben Berlins Künstler*innen die Soforthilfe 2 aufgenommen. Ein großes Lob gebührt den zuständigen Mitarbeiter*innen der Senatsverwaltungen und der ibb für die schnelle und unkomplizierte Abwicklung. Ein besonderer Dank gilt weiterhin auch unseren Verbänden und den vielen Ehrenamtlichen der Freien Szene, die in den letzten Wochen unermüdlich informiert, Dokumente übersetzt und anderen bei der Online-Antragstellung geholfen haben.

Viele Menschen haben die Hilfen bereits erhalten, doch sind ebenfalls viele noch unberücksichtigt geblieben. Nun wurde das Hilfsprogramm des Landes Berlin eingestellt und in das Programm des Bundes überführt, das aber andere Auflagen hat und die besondere Situation freier Kulturschaffender nicht angemessen berücksichtigt. Wir appellieren daher dringend an Sie, weitere Landesmittel bereit zu stellen und sich auf Bundesebene für flexiblere Konditionen einzusetzen. Unsere Bedenken möchten wir Ihnen hier darlegen.

1. VIELE MENSCHEN FALLEN DURCHS RASTER, DER ANDRANG WURDE UNTERSCHÄTZT

Die Zahl der Hilfsbedürftigen in Berlin wurde unterschätzt. Es hieß, Mittel seien für alle vorhanden und niemand müsse sich beeilen, in 6 Monaten könne nochmals Geld beantragt werden. Doch weniger als eine Woche später schon sind die Landesmittel erschöpft. Viele konnten keinen Antrag stellen und werden jetzt auf die Bundesmittel verwiesen, mit denen aber keine Lebenshaltungskosten und Krankenkassenbeiträge bezahlt werden dürfen. Kurzarbeiter*innengeld und Grundsicherung sind für Kulturschaffende jedoch keine Alternative, da sie weder Angestellte beschäftigen noch weiter künstlerisch tätig bleiben könnten.

Außerdem bildet sich die Internationalität der Kunst auch in ihren Künstler*innen ab. Zugezogene Berliner*innen, die auf dem angespannten Wohnungsmarkt bisher kein bezahlbares Zuhause finden konnten, haben noch keine Steuer-Identifikationsnummer. Für sie war es formell gar nicht möglich, einen Antrag zu stellen und wird es auch weiterhin nicht sein. Doch sie alle sind vom Shutdown ebenso betroffen – wie kann ihre Existenz nun gesichert werden?

2. FEHLENDE INFORMATIONEN SORGEN FÜR LANGFRISTIGE UNSICHERHEITEN

Während freien Künstler*innen von offizieller Seite dazu geraten wurde, die Soforthilfe zu beantragen, wurde über die Konditionen erst spät und juristisch nicht umfassend informiert. Kulturschaffende, die unter den Krisenbedingungen erst Rücksprache mit ihrem Steuerbüro halten wollten, standen plötzlich vor dem Antragsstopp. Nun herrscht erneut Unsicherheit, ob überhaupt Anspruch auf die Bundesmittel besteht oder sie später zurückgezahlt werden müssen, ja sogar Strafen fällig werden. Doch wer ohnehin prekär lebt, ist nicht erst existenziell bedroht, wenn mindestens 50 % der Einnahmen wegbrechen.

Wenn Veranstaltungen über Monate abgesagt würden, aber noch geringfügige Ersparnisse vorhanden sind, zählt dies als Liquiditätsengpass? Muss ich Gelder, die für ein Projekt in der Zukunft zurückgelegt sind, aufbrauchen, auch wenn ich dann meinen vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann?

Wenn ich hauptberuflich als Künstler*in tätig bin, aber in meinem Nebenerwerb mehr verdiene, bin ich dann antragsberechtigt? Wenn ich die Zuschüsse nur für Gewerbemieten und Materialkosten einsetzen darf, woraus soll ich meine Kranken- oder Rentenversicherung bezahlen? Darf ich jetzt überhaupt noch etwas verdienen? Und was ist mit Rücklagen für die Altersversorgung? Dies sind nur einige der Fragen, die uns täglich erreichen. Hier sind klare und konkrete Antworten für die Situation der oftmals prekär lebenden Akteur*innen unbedingt erforderlich.

3. KUNST IST WEDER UNTERNEHMERTUM NOCH KOMMERZIELLE DIENSTLEISTUNG

Kulturschaffende passen nicht in das Muster für kommerzielle Solo-Selbstständige. Im Sinne der Freiheit der Kunst arbeiten sie nicht profit-, sondern gemeinwohlorientiert, nicht eigennützig, sondern kostendeckend. Institutionell geförderte Akteur*innen dürfen laut deutschem Zuwendungsrecht nicht einmal Rücklagen bilden. Diese Uneigennützigkeit darf ihnen jetzt nicht zum Verhängnis werden. Freie Kulturschaffende haben weder geregelte Einkommen noch eine gleichmäßige Auftragslage. Vergleiche ihrer finanziellen Situation im März 2020 mit der im Februar 2020 oder März 2019 sind daher in keiner Weise aussagekräftig.

Zudem variiert die wirtschaftliche Kalkulation zwischen den Sparten enorm: neben unterschiedlichen Materialkosten gibt es saisonal bedingte Einnahmensschwankungen; künstlerisch tätige Projektraumbetreiber* innen bspw. sind durch doppelte Mieten und Projektkosten belastet; wer nicht über die KSK versichert ist, muss die Rente aus eigener Tasche finanzieren usw. Für Kunst und Kultur muss es nun einen separaten Topf geben, der spartenspezifisch ausgearbeitet und angepasst werden sollte, damit er eine nachhaltige Wirkung entfalten kann. Hier stellen wir Ihnen gerne unsere Expertise zur Verfügung.

4. BESTEHENDE FÖRDERPROGRAMME DÜRFEN NICHT UMGEWANDELT WERDEN

Der Fonds Darstellende Künste hat gerade die Ausschreibung zur Initialförderung für 2020 ausgesetzt und stattdessen das Hilfsprogramm #takecare ausgeschrieben. Eine gute Intention, doch nehmen wir mit Unverständnis wahr, dass Antragsteller*innen in den letzten 10 Jahren Teil einer vom Fonds geförderten Produktion gewesen sein müssen – eine klare Diskriminierung innerhalb der Sparte! Gerne können in allen Sparten zusätzlich zu den Förderprogrammen Mittel für die Corona-Krise bereitgestellt werden. Hilfen müssen jedoch allen Künstler*innen offenstehen und dürfen nicht auf Kosten bestehender bzw. geplanter Förderungen gehen, da dies zukünftige Projekte einschränkt und die langfristige Situation verschärft.

5. BEDINGUNGSLOSER BESTANDSSCHUTZ

Künstlerische Projekte bedürfen der langfristigen Vorplanung und sind durch die begrenzten Kapazitäten in Präsentations- und Spielorten nicht einfach nachholbar. Künstler*innen brauchen zur Entwicklung und Schaffung ihrer Kunst zudem Produktionsorte, die außerhalb der eigenen Wohnung liegen. Der Kündigungsschutz gilt momentan nur bis zum 30.6.2020, für gestundete Mieten fallen sogar Zinsen an, die Soforthilfen zur Liquiditätssicherung gelten für maximal 6 Monate, doch spätestens dann sind die meisten freien Kulturschaffenden auf Hartz IV angewiesen, was keine künstlerische Praxis mehr zulässt.

Es ist bereits heute absehbar, dass im Kulturbetrieb in 6 Monaten kein Normalbetrieb herrschen kann – weder aus gesundheitlicher Sicht noch angesichts der genannten Kapazitäts- und Ressourcenprobleme. Es drohen massenweise Produktions- und Präsentationsorte verloren zu gehen, wenn Kulturorte jetzt nicht langfristig vor Kündigung geschützt werden. Das Gleiche gilt selbstverständlich für andere Gewerbeorte, die existenziell bedroht sind. Auch sie können ihre Einnahmen nach der Krise nicht einfach verdoppeln. Der Kündigungsschutz muss ausgeweitet werden, die Last der Mieten muss solidarisch verteilt werden.

Kunst und Kultur waren noch nie ein Luxus. Sie sind eines der wichtigsten kritischen Korrektive unserer demokratischen Gesellschaft. Wir dürfen nicht zulassen, dass nach der Corona-Krise nur noch die da sind, die den kommerziellen Markt bedienen können. Wir appellieren daher dringend an Sie, die kulturelle Infrastruktur in Berlin und auf Bundesebene nachhaltig zu schützen.

Der Sprecher*innen-Kreis der Koalition der Freien Szene

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Image: CDC/Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAMS
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